Tiefstes Waldviertel. Wir fahren rechts am Schloss Raabs vorbei. Ich muss stehen bleiben. Ein Nostalgieschwall überschwemmt mich unweigerlich von innen. Vor meinem geistigen Auge schweben all die Tanten, die ich während meiner Kindheit oft wochenlang gemeinsam mit Omi in den Ferien besucht habe. Jetzt kann ich meine Tanten nur noch am Friedhof besuchen. Omi auch. Eine gäbe es noch! An der Stadtmauer 1 – welch geile Adresse?
„Hallo Tante Sigrid!“ begrüße ich sie am Telefon. „Ich stehe vor deinem Haus und würde dich gerne besuchen, magst du mir aufmachen?“ „Lieber nicht Klaus, ich bin bettlägerig und komm nicht mehr auf. Mir ist es lieber, du behältst mich so in Erinnerung, wie du mich von früher kennst.“ Harte Worte. Ich respektiere sie, auch wenn mir die Entscheidung nicht leicht fällt. Doch die Gartentür bleibt zu. Sie zu öffnen wäre übergriffig.
Wir spazieren weiter zum Hallenbad. Die nackten Saunagänger schwimmen im Fluss, der Thaya. So wie ich früher. Bevor ich Pommes als Belohnung fürs Bravsein bekommen habe. Mit viel Ketchup.
Der Weg führt vorbei am Haus vom Doktor. Der unsere Platzwunden genäht hat. In einem Jahr meine, im nächsten Jahr die von meinem Bruder. Die Stirn aufgeschlagen an genau der selben Bettkante. Passiert beim übermütigen Springen am Bett. Nachdem wir das Platzkonzert der Musikkapelle am Hauptplatz bestaunt und belauscht haben. Damals in den 80ern. Bevor das herannahende Gewitter alle Schau- & Hörlustigen in ihre Häuser vertrieben hat. Auch uns. Im Pyjama am Fenster die nächtlich beleuchtete thronende Burg hoch oben am Felsen bewundert, während sie immer wieder von zuckenden Blitzen umzingelt wurde. Einundzwanzig, Zweiundzwandig – Krachbum! Länger sind wir oft nicht gekommen mit dem Zählen nach den Blitzen.
Am Abend vom Stadthotel-Balkon der Luft beim Schwarzwerden und der Burg beim Beleuchtetsein zusehen, ist für mich noch heute ein faszinierendes Abenteuer.
Das abendliche Gewitter verzieht sich nach 2x Donnergrollen wieder. Kein Zählen notwendig. Erstaunt spüre ich den warmen Sommerwind. Den gibt’s auch im kaltbekannten Waldviertel? Er weht mir einen Hauch von Wehmut & Nostalgie um die Ohren.
Bei Sonnenaufgang geht es mit dem Rad zur Burgruine Kollmitz. Auf dem Schild am Waldesrand lese ich „Ritterweg“. Aufrichtig wie ein stolzer König reite ich mein Bike, die Krone imaginiere ich mir auf das Haupt. Dann fällt mir ein: Ritter? Die waren doch die Diener der Könige, oder? Vielleicht doch lieber einfach nur Radfahrer sein, reicht auch.
Wir pedalieren über die saftigen Wiesen, wo wir damals die vielen Pilze gefunden haben. Friedliches Waldviertel, dem wir beim Aufwachen zusehen, während die Morgensonne es wachküsst. Der Morgentau gibt sich schon bald den Sonnenstrahlen geschlagen. Als wir entlang der Felswand an den beiden riesigen Granitblöcken vorbeifahren, fällt mir die Sage der beiden sich kämmenden Mädchen ein, auf die als Strafe fürs zu spät in die Kirche kommen die Felsblöcke herabgefallen sind. Angeblich liegen sie noch heute darunter. Mitsamt ihren Kämmen.
Auch die Teufelskralle am Eintrittsportal der Burgruine kann man mit viel Phantasie noch immer erkennen. Der Sage nach wollte sich der Teufel hier festkrallen, als er von der Burg vertrieben wurde. Wer wird all diese Sagen in die nächste Generation weitertragen, frage ich mich? Und: Interessieren diese Mythen die nächste Generation überhaupt noch?
Zurück im Ort spazieren wir vorbei am Raabser Puppenmuseum . Etwas spooky sehen sie aus, die Damen mit dem fokussierten Blick im Schaufenster. Ein Puppenmuseum hier oben im Norden ist wahrscheinlich kein hoch-profitables Profit Center. Passend zur ökonomische Devise im Waldviertel: „Viel Aufwand für überschaubaren Ertrag.“ Ertrag ist bei Annelieses Puppenmuseum definitiv kein Motiv. „Das ist eine reine Herzensangelegenheit“ wie sie authentisch schildert. Sie kannte meine Oma und sämtliche Tanten, ist quasi Zeitzeugin. Schließlich wohnt sie in jenem Haus, wo Omi mit ihren vielen Geschwistern aufgewachsen ist. “Denen allen tut kein Bein mehr weh. Mir schon.“ lächelt sie während sie einen Anhänger voll Spielzeug für ein rumänisches Kinderheim füllt. Eine Puppe zwinkert uns zu.
Das Schaufenster vom Inneneinrichter Stallecker ziert ein liebevoller Brief: „Unser Betrieb schließt nach 110 Jahren wegen Pensionierung.“ Das Gasthaus Strohmer gibt es nicht mehr. Die Fleischerei auch nicht. Aber die Frisörin am Hauptplatz – die gibt es noch! Taxifahrer und Frisöre – dort erfährt man stets was den Menschen auf der Seele brennt. Und wo was los ist. Redselig erzähle ich von meinen Kindheitserlebnissen und schwärme von den Platzkonzerten, die dereinst den ganzen Ort samstagabends zum Beben gebracht haben. „Na es hobt’s a Glick! Heit is eh a Konzert von da Blosmusik. Im Sägewerk. Und danoch die Plan B Party am Spurtplotz.“ Danke Frisörin Margot für den trendigen Haarschnitt. Und die Tipps! Das Abendprogramm steht.
Stopp! Der Friedhof! Da war noch was. Ich trete an das Grab meiner Ahnen und Tanten. Dort wo es Nachfahren gibt, ist das Grab gepflegt und geschmückt. Bei Tante Luise nicht. Weder Pflege noch Schmuck. Ihre DNA hat sie nicht weitergegeben. Die Gravur im Grabstein ist der letzte irdische Hinweis auf ihr ehemaliges Dasein. Wenn es meinen Bruder und mich nicht mehr geben wird, dann werden auch die letzten Erinnerungen an sie verblasst sein. So wie die Anekdote, als sie vor der Fahrt ins Zwettler Kloster mein Auto mit Weihwasser besprüht und gesegnet hat. Zu frisch war ihr mein Führerschein. Zu alt und rostig das Anfänger-Auto. Vor wenigen Tagen habe ich diesen Text gelesen. Er kommt mir jetzt wieder in den Sinn, nicht zu unrecht:
„In 100 Jahren werden wir alle bei unseren Verwandten und Freunden begraben sein.
Fremde werden in unseren Häusern leben, für deren Bau wir so hart gekämpft haben, und ihnen wird alles gehören, was wir heute haben. Alle unsere Besitztümer werden unbekannt und ungeboren sein, einschließlich des Autos, für das wir ein Vermögen ausgegeben haben, und das wahrscheinlich Schrott sein wird, bestenfalls in den Händen eines unbekannten Sammlers.
Unsere Nachkommen werden kaum oder fast gar nicht wissen, wer wir waren, und sie werden sich auch nicht an uns erinnern. Wie viele von uns kennen den Vater unseres Großvaters?
Nach unserem Tod wird man sich noch ein paar Jahre an uns erinnern, dann sind wir nur noch ein Porträt im Bücherregal von jemandem, und ein paar Jahre später verschwinden unsere Geschichte, Fotos und Taten in der Vergessenheit der Geschichte. Wir werden nicht einmal Erinnerungen sein.“
Etwas nachdenklich machen wir uns abends auf den Weg zum Event. Der Schwermut in den Knochen kämpft anfangs mit der Ausgelassenheit des Fests. Doch er ist chancenlos gegen die Heiterkeit und Leichtigkeit der Party. Spätestens als wir mit den selbstgebastelten Hüten im Takt zur Blasmusik auf den Tischen tanzen, spüren wir die Lebensfreude wieder in jeder Zelle jubeln.
Der Bürgermeister wünscht sich ein Foto für die Presse mit uns, die Polonaise spannt uns als dampfende Zugmaschinen vor die Menschenschlange und spätestens nach Mitternacht trauen sich auch die scheusten Dorfbewohner die schrägen Auswärtigen mit den illustren Kopfbedeckungen an der Bar anzusprechen. Getränke-Einladungen folgen Gegeneinladungen und eine rauschende Partynacht bahnt sich ihren leuchtend-strahlenden Weg durch die dunkle Waldviertler Nacht.
Der Morgen bittet um Schonprogramm. Wir gönnen es ihm, im Wellnessbereich der Liebnitzmühle. Welch magischer Ort.
Kindheitserinnerungen erwachen erneut. Einst der Reiterhof von Tante & Onkel. Die Schotterwege & -Plätze waren durchzogen von großen Lacken in denen sich Pferdeäpfel badeten. Fliegen-Schwärme hatten ihre Freude daran und surrten nach Herzenslust. Die Reiter und Gäste, so wie wir damals, rümpften die Nase. Heute ist alles anders. Sterile Whirlpools statt Lacken und gediegene Saunalandschaft statt dreckiger Wild West Romantik.
Grande Finale! Wir machen eine Kanufahrt auf der Thaya. Friedlich gräbt sie sich seit Jahrtausenden ihren Weg durch Granit, Erde, Tannen, Fichten und mächtige Eichenwälder. Das Ufer garniert ein weicher Saum aus Moos und saftigem Gras. Manchmal schmücken Seerosen die Wasseroberfläche. Welch gutmütiger Fluss. Hier hat mir Omi von ihren Eislauf-Erlebnissen ihrer Kindheit erzählt. Diese war vor rund 100 Jahren. Als sie noch zu ihren Eltern „Sie“ sagen musste. Und als die strengen Waldviertler Winter noch die Traktoren über den zugefrorenen Fluss haben fahren lassen. Bei Tante Sigrid war früher stets das Thaya-Zimmer das begehrteste bei allen Mittagsschläfchen-Anwärtern. Das zeitlose Rauschen des Wehrs beruhigt mich noch heute. Nach zwei Nächten und drei Nostalgie-gefüllten Tagen geht es zurück nach Hause. Geerdet. Herz und Akkus sind voll.
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