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EINBLICKE

In mein Leben. In mich.

  • AutorenbildKlaus

Auf dem Jakobsweg







Juni 2021

„Warum musst du so weit weg fliegen um zu pilgern? Bei uns gibt es doch auch so schöne Wanderwege.“ Fragt mich Tante Anneliese kurz vor meiner Abreise nach Spanien.

Magnetismus in Worte zu fassen fällt oft schwer. Weder den zu Menschen, zu Orten oder auch den zu inneren Vorhaben.

Bei 32 Grad steige ich am Wiener Flughafen aus dem Taxi, bei 24 Grad in Madrid aus dem Flieger und bei 18 Grad und Starkregen in Leon aus dem schnellsten Zug Europa’s. Weitere 2 Stunden später hat es nur noch 9 Grad. Und noch immer Starkregen. Ich tanke noch ein letztes Mal Kohlenhydrate auf und gönne mir Sangria mit Tappas. Ich hätte mir auch als Alternative in Neon-Lettern auf die Stirn schreiben können: „Ich bin ein Tourist!“ Kein Spanier würde freiwillig Sangria trinken. So wie wir Wiener nicht mit der Mozartperücke im Fiaker spazieren fahren. Die emporführenden Stufen aus der Unterführung sind beschriftet mit den Kalorien, die man mit jeder Stufe verbrennt. Das motiviert mich die Rolltreppe auszulassen. Oben angekommen habe ich 36 Kalorien verbrannt – ein ganzer halber Schluck Sangria.

El Paraiso. Paradiesisches Landgut nahe Herreras in Nord-West-Spanien. Mein heutiges Ziel. Doch eigentlich ist es erst der Start. El Camino. Auf dem Jakobsweg.

Die Kelten waren vor über 3000 Jahren die Ersten, die auf diesem Weg ein besseres Leben fanden. Selbst die römischen Baumeister nutzten die kraftschenkende nordspanische Leylinie, um die erste Straße am Jakobsweg zu bauen.

Der Apostel Jakobus – der Ältere, der Bruder von Apostel Johannes, ging nach dem Tod Christis auf den Weg nach Spanien, um den christlichen Glauben zu verbreiten. Aufgrund mangelnden Erfolges – der Legende nach auch aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse - kehrte er nach Jerusalem zurück und wurde 43 – als erster Märtyrer - von König Herodes enthauptet. Seine Getreuen stahlen seinen Leichnam und brachten ihn auf ein Schiff, das nur von einer Besatzung von Engeln nach Galizien – ans Ende der damals bekannten Welt – nach Finisterre - gebracht wurde. Ein Ritter, der von einem hell leuchtenden Stern auf das Schiff aufmerksam gemacht wurde, ertrank fast bei der Bergung des Schiffes und des Leichnams. Als er dem Meer, gerade noch lebendig entstieg, war sein Körper über und über von Muscheln – dem heutigen Pilgersymbol, die seitdem Jakobsmuschel heißt - bedeckt. Die Stelle des Grabes wurde geheim gehalten und vergessen.

Erst 813 wurde sie von einem Eremit auf einem Feld entdeckt. Dieses Feld wurde danach Sternenfeld – spanisch Compostela - genannt. Santiago ist der spanische Name für den heiligen Jakobus.



Genug Geschichte. Wir pilgern los. 186 km bis Santiago. Ich habe Ostbahn Kurti im Ohr und wage es seinen Text zu adaptieren. A Schritt zruck – Zwa Schritt viere.

Welches Vorhaben habe ich? Was soll anders werden? Ich habe kein spezielles Vorhaben. Wenn die Erleuchtung mich ereilen mag, ich halte sie nicht ab davon. Und so schreite ich ohne Vorhaben ins Vakuum. Und in den Regen. Ich höre, dass es pandemiebedingt gerade wie vor 40 Jahren ist, bevor Pilgern die heutige Popularität des New Age erreichte. Kaum Leute sind am Camino zu sehen. Wie 3 Dampflokomotiven spazieren wir durchs Nasse Galizien, stets mit unserem Hauch über den Häuptern aufsteigend. Nach 20 Minuten des gemeinsamen Gehens löse ich mich von meinen 2 Begleitern und gehe mein eigenes Tempo. Auf und davon. Die überschüssige Energie muss raus. Wie beim jungen Hengst, der endlich auf die Koppel darf.

Nach 4 Stunden Marsch nähere ich mich einer 3er Gruppe und setze mich als Zugpferd an ihre Spitze. Plötzlich! Telefongeläut. Lucia schreit Franco an. Der schuldige Telefonklingler sieht betrübt und reuevoll zu Boden. Unsere Blicke gleichen jenen, die der Terrorist für das Ziehen des Bombenstifts erntet.

Erdklumpen am Feld sind richtig. Im Büro würde man sie Schmutz nennen und sie wären fehl am Platz. Telefongeläut im Büro ist Standard. Hier ist es akustischer Schmutz. Es ist immer eine Frage der Perspektive und des Rahmens.

Ich wandere alleine weiter und beobachte mich beim Denken und bin erstaunt, was alles an die Oberfläche kommt, wenn man dem Geist nur Zeit, Raum und Weite gibt. Von all dem hat er hier genug. Ein Kreativfeuerwerk der Ideen entzündet sich und ich halte vieles davon in meinem Tagebuch fest.

Der blassblaue Automat am Wegesrand entlockt mir ein Lächeln. Tapes & Blasenpflaster bietet Hansaplast hier gegen Einwurf von Münzen an. Ich frage mich, ob mich dieses Verarztungs-Spektakel in den nächsten Tagen auch noch erwarten wird?

Die Kirche Fonfria lädt mich zu einer kurzen Rast ein. Ich gönne mir eine weiche Banane auf der Bank vor dem alten Gebäude. Sie scheint steinalt zu sein. Von viel fria.



Der nächste Tag startet bei 4 Grad Plus. Erneut strömender Regen. Das ist kein Seelenleckerbissen. Oder doch? Wachstum hat in meinem Leben oft dann stattgefunden, wenn der Weg nicht von Zuckerstangen flankiert und in Honig einbalsamiert war. Wer ein Hochhaus baut, möge davor eine tiefe Grube graben. Der Spitzensportler regeneriert, bevor er Spitzenleistungen erbringt. Und die Welle zieht sich zurück, bevor sie mit voller Wucht gegen die Brandung schlägt.

Ergo: Auf ins Gatsch-Inferno! Die Gipsy Kings in meinen Kopfhörern machen den Regenmarsch erträglicher. Ich höre „Volare“ und „Passion“ in Dauerschleife. Lange nicht gehört. Bilder der Maturareise spazieren mir durch den Kopf.

Ich genieße den bunten Kultur-Mix abends in den Unterkünften. Franzosen, Schweden, Australier und 3 Österreicher. Gesellige Unterhaltungen. Das gemeinsame Ziel eint. Santiago di Compostela. Noch 147 Kilometer.







Das Schiff wurde nicht zum gemütlichen Schaukeln im Hafen gebaut. Deshalb heißt es auch für uns am nächsten Tag wieder: Hinaus unter den freien Himmel. Mein Handy piepst kurz vorm morgendlichen Aufbruch. Die Uniqa schreibt mir eine SMS. Hitzewarnung! In der Heimat. Bei 4 Grad Celsius stapfe ich mit Kopfschütteln in den strömenden spanischen Gebirgsregen. Keine 10 Pferde würden mich heute für gewöhnlich ins Freie bringen. Der Camino tut es. Pilgern ist nicht immer schön. Die Quartiere sind gebucht. Santiago wartet. Es gibt kein Stehenbleiben. Das Ziel eint die Kräfte. Wir gehen. Durch die Wasserwand.




Ich telefoniere mit meinem Bruder. „Vü schwitzn weards net bei den Temperaturen...“ meint er lapidar. Der Regen wird schon bald zum zarten Niesel. Fast 2 Stunden gehen wir geschlossen zu dritt. In einem Bergdorf werfen wir der Bäuerin 4 Euro in ihr Sparschwein und freuen uns über 2 Tassen selbst gepflückter Himbeeren. Beeren schnabolierend pilgern wir durch Kuhfladen-verzierte Kopfsteinpflaster-Gassen. Moos an den Wänden, die knorrigen Bäume zwinkern uns zu.




Wir kochen den österreichischen Film-Klassiker „Brüder“ hoch und diskutieren, wer von uns wer ist? Ich mag unsere Vibes am Camino. Leichtigkeit stellt sich ein. Auch das Wetter meint es heute zunehmend gut mit uns. Eines der raren Sonnenfenster tut sich schon bald auf und erhellt unsere Stimmung zusätzlich.




Nur rund jede vierte Unterkunft hat offen und oft sehen wir stundenlang keinen Pilger. Abnormales Pilgerjahr. In Stille. Von Himbeeren gestärkt meistern wir die Königsetappe. 31 km. Offiziell. Ich verirre mich am letzten Drittel und mache sie zu einer 34 km-Etappe. Plötzlich sehe ich keinen Muschelwegweiser mehr weit & breit. Ich begehe ein Pilgervergehen und befrage Google Maps. Es führt mich über Wiesen & durch Gestrüpp wieder auf den Camino. Wie hat das der Heilige Jakob damals gemacht? Wie oft hat der sich wohl verkoffert als er den Weg namensgebend zum ersten Mal auf seinem Missionars-Trip gegangen ist? Wer war sein Google Maps? Feldarbeiter? Der Sonnenstand? Der große Bär am Sternenhimmel?


Jeden morgen klingelt um 6 Uhr der Wecker. Bis 7:30h genieße ich Quality-Time mit mir. Dehnen, Workouts und Tagebuch schreiben lässt mich schön in den Tag starten.

Um 7:30h treffen wir uns zur gemeinsamen Meditation, gefolgt von 10 Minuten Sprechzeit für jeden von uns, wir nennen es Sharing. Gedanken für sich selbst ordnen können, dabei Raum von anderen Menschen bekommen und die Kerninhalte verbal zurückgespiegelt bekommen. Balsam für die Pilgerseele. Manchmal frühstücken wir danach. Manchmal nicht. Meist zerfledert uns das unterschiedliche Gehtempo schon nach Minuten.

Santiago kommt viel zu schnell auf uns zu. Ich könnte diesen Tagesrythmus noch länger beibehalten.



In den Unterkünften biegen wir stets rechtzeitig vor den riesigen Schlafsälen in unsere Einzelzimmer ein. Der Jakobsweg ist keine Reise im Außen. Am Abend lenke ich meinen Fokus stets nach Innen. Jede Sehne fleht mich an: „Gib Ruhe! Geh nicht mehr auf’s WC! Bleib im Bett!“ Ich frage mich täglich vorm Schlafengehen, wie dieser lädierte Körper morgen wieder an die 30 Kilometer aus eigener Kraft mit Rucksack am Rücken schaffen soll. Doch ich habe meine Rechnung ohne dem Regenerationswunder Mensch gemacht. Am Morgen kann der rehgenerierte Bock es oft gar nicht erwarten, auf dem Camino zu tänzeln.


Vorletzter Tag. Ich strotze vor Energie. „Viva Espanya“ singt die junge Pilgergruppe lautstark am Platz vor dem Steinhaus.



Die Mädels verschicken mit ihren Händen noch Küsse, bevor sie weiterpilgern. Russell gesellt sich zu mir an den Tisch vor dem Kiosk. Er lebt aus seinem Kinderwagen, den er vor sich herschiebt. Bei uns nennt man sie Obdachlose, hier nennt man sie Jojos. Jene, die am Camino hängengeblieben sind. Sie bewandern ihn von Ost nach West, bis sie in Santiago sind. Dann kehren sie um, um den Weg zurückzugehen. Bis sie ihn wieder zurückgehen. Um ihn dann zurückzugehen. Ausstieg nicht absehbar. Seit 2 Jahren ist er unterwegs. Er schläft in den Wiesen und Wäldern. Im Winter manchmal im Zelt. Er erzählt mir von einer Frau die mit 2 Urnen unterwegs war. Sie ging bis Finisterre, ans Meer. Um dort die Asche ihrer Kinder auszuleeren. „Ich kennen keinen Namen mehr, von den Menschen die mir ihre Geschichten erzählt haben“ gurgelt es mit tiefer Stimme aus ihm. „Aber ich kann mich an jedes Gesicht und an jeden Blick erinnern.“

Ich schaue rechts die Straße entlang. An der Kreuzung, rund 100m entfernt, steht ein Polizeiauto mit Blaulicht. „Der Unfall ist vor rund einer Stunde passiert. Ein Toter.“ klärt er mich auf, während er sich eine Zigarette rollt. „Wie Hundescheisse auf Asphalt. Keinen kümmert’s mehr. Like Dogshit on Asphalt“ schießt er mit scharfer Zunge nach.

3 lachende Pilger biegen um die Ecke. That’s life! Die 3 können gar nicht wissen, was sich da drüben vor einer Stunde abgespielt hat. Ich wusste es bis vor kurzem auch nicht. Sie werden es auch nie erfahren. Das Polizeiauto ist inzwischen weggefahren.

Ich zahle meine Kirschen und mein Getränk an der Kioskkassa. Das Wechselgeld schenke ich Russell. Er pfeift mir zum Dank einen Song. Zum Gitarrespielen ist es noch zu früh, meint er.


Was meine Erkenntnis ist? werde ich am Ende der Reise gefragt. Ganz klar! Wenn der Stein im Schuh des Lebens drückt, zerbrich dir nicht den Kopf, wie der Stein in den Schuh gekommen ist. Und auch die Gedanken, wer dich am Abend wo und wie verarzten wird, kannst du dir sparen. Sondern: Mach Pause. Zieh den Schuh aus. Entferne den Stein. Und wandere weiter. Es zahlt sich aus. Buen Camino!


PS: Wenn du auch Lust auf Pilgern am Jakobsweg hast, voila: https://vision-academy.pro/index.php/visionssuche/visionssuche-am-jakobsweg





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